Freitag, 6. Juni 2008

Ich kann's nicht lassen

Niemals haette ich gedacht, dass mich die Einfahrt in die Vorzeigestadt des Christentums, Santiago de Compostela, so wenig emotional beruehren wuerde. Aber ganz genau so war. Dabei hatte ich bei Passieren des Ortseingangsschildes im so haesslichen neuen Teil Santiagos bereits insgesamt mehr als 3100 Kilometer im Sattel zurueck gelegt; mein Ross spurt seit Tours in Frankreich, einem der Wendepunkte meiner Tour, wie ich rueckblickend feststellen kann. Etwa 800 Kilometer meiner Tour bin ich schnurstracks auf dem so genannten franzoesischen Jakobsweg, der kurz vor der spanischen Grenze noerdlich der Pyrenaeen beginnt und sich quer durch Spanien, so etwa 150 Km suedlich der Kueste, bis nach Santiago zieht, geradelt. Als einer der bequemen Pilger habe ich mich zum groessten Teil auf parallel zum Original-Pfad verlaufenen Landstrassen gehalten, um mich, meine Beine und mein Pferd zu schonen. Der Originalpfad ist naemlich nur fuer Fusspilger und wirklich verrueckte, erfahrene Mountainbiker und solche, die denken, sie seien erfahren, geeignet. Die Fahrraeder der Letztgenannten enden meist mit Kettenrissen, Speichenbruechen, vermatschten Zahnkraenzen oder gar gebrochenen Shimano-Kettenschaltungen in einer grossen Pappkiste auf dem Weg nach Hause, da die Schaeden irreparabel sind (dies ist keine literarische Freiheit, die ich mir womoeglich genommen habe, sondern pure Wahrheit).
Deswegen also entschied ich mich fuer den Weg, den mein in San Sebastian gekaufter deutscher Radwanderfuehrer empfohlen hat. De facto jedoch habe ich ihn selten benutzt: In den ersten vier Tagen fuhr ich mit dem Belgier Harry, den zweiten Teil des Weges in der flachen (und laut Reisefuehrer "fuer Deutsche beeindruckend leeren") Meseta-Landschaft hunderte von Kilometern auf der Nationalstrasse gen Westen und schob meinen Speedy Gonzales die darauffolgenden fuenf Tage ueber 100 Kilometer zusammen mit einem Menschen, der mich sehr inspiriert hat und mir verdammt stark ans Herz gewachsen ist, von dem ich mich allerdings fuer den letzten Abschnitt des Caminos 200 Kilometer, d.h. drei Tage vor Santiago getrennt habe. Und genau dafuer, da ich diese letzten drei Tage allein fuhr, war mein Radwanderfuehrer tauglich, sonst - wie gesagt - kaum gebraucht.
Und dann die Einfahrt nach Santiago, die ich nacheinander mit zwei Menschen geteilt habe: Den Teil bis kurz hinter dem Ortsschild "Santiago de Compostela" fuhr ich mit einer blutjungen Kanadierin und die letzten drei Kilometer bis zur Kathedrale, DEM Ziel aller Pilger, mit einem Hollaender im Rentenalter, der von Utrecht (Holland) nach Santiago geradelt ist. Fuer ihn, der immer Santiago als Ziel angepeilt hat, war es eine Riesenfreude. Aufgeregt, nervoes, sogar zitternd bat er mich von ihm und seinem Bock ein Foto vor der Kathedrale zu schiessen, nein, sogar mehrere sollten es sein: Horizontal, vertikal, diagonal, scheissegal. Zum Glueck hatte er einen so erfahrenen Fotografen wie mich am Druecker. Geschickt schoss ich also die Fotos, Dutzende, und machte ihn gluecklich. Ich, immer noch vollkommen unberuehrt von dem Trubel, den Touristen, der Kathedrale entschied mich daraufhin mir trotz meiner Gefuehlslosigkeit die "Compostela", also die Pilgerurkunde, zu holen. "Mr. Kalka, were the Camino based for you personally on religious reasons?", fragt die Frau vom Pilgerbuero mich. Ich antworte wahrheitsgemaess und kreuze auch noch an: "No religious reasons." - das war ein Fehler. Sie kramt unterm Schreibtisch und holt ein lieblos aussehendes DIN A4-Blatt hervor, schreibt meinen Namen und das Datum in die dafuer vorgesehenen Felder und haendigt mir das Pamphlet aus. Ich frage mich kurz, warum die anderen Pilger alle mit einem wunderschoen verzierten Bogen Papier das Buero verlassen, was habe ich bloss falsch gemacht? Und dann kapier ich: Die Religion. Also Notfallplan B: "Errrm, Misses, I thought you asked me if it was based on the christian religion, but actually it was based on my own religion that is called Florianismus, so in fact, it was based on religious reasons for me." - Tja, aber die Frau liess sich nicht ueberzeugen und ich zog etwas gekraenkt ab mit dem "Thanks for visiting Spain" (oder so aehnlich)-Papier.
Nun denn, ein Gefuehlsausbruch blieb also bei mir aus, andere Pilger hingegen (so erzaehlte man mir) brachen zusammen beim Anblick der Kathedrale oder gar der Stelle, unter der der Apostel Jakob vergraben sein soll. Oder sie danken Gott. Oder ihren Fuessen. Die Pilger, ja die Pilger sind schon ein merkwuerdiges Volk. Von Rumheulern, die den ganzen Tag ueber Blasen (haeufigstes Problem), Schmerzen an der Achillessehne (zweithaeufigstes Problem), Sehnenscheidenentzuendungen (Platz 3) oder allgemeiner Fusssohlenueberempfindlichkeit (Platz 4) sprechen bis hin zu Einmischern, die einem die Ruhe durch ihre staendige "Holá" und "Buen Camino"-Wuenscherei nehmen, ist alles dabei. Zu den Rumheulern meinte der Mensch, der mir so sehr ans Herz gewachsen ist: "Flo, weisst du, warum die alle so viele Probleme haben? Weil sie staendig drueber reden!" - ist vermutlich was Wahres dran.
Oh mein Gott, ich merke, es hoert sich wieder alles ein wenig negativ an. Nein, falsch! Der Camino war toll, ich habe ihn sehr sehr sehr genossen, mit Leib und Seele. Fuerwahr! Ich wuerde ihm jedem von euch weiterempfehlen. Alle paar Kilometer sind Pilgerherbergen, die meist von sehr sehr netten Freiwilligen gefuehrt werden und sehr wenig bis gar nichts kosten. Als Fusspilger bekommt man immer ein Bett, oder - falls voll - zumindest eine Matratze. Als Fahrradpilger ist man manchmal nicht so gern gesehen, deshalb empfehle ich auch den Weg zu Fuss zu gehen. Es ist mit grosser Sicherheit ein tolles Erlebnis, eine eindrucksvolle Erfahrung, die sich einpraegen wird. Jedoch darf man zwei Fehler meiner Meinung nach nicht machen: Mit grossen Erwartungen an die Sache rangehen und einen zeitnahen Rueckflug gebucht haben.
Ersteres fuehrt zu grossen Enttaeuschungen bei der Ankunft in Santiago. Wie viele Pilger habe ich kennen gelernt, die der Meinung waren, all ihre Probleme waeren ploetzlich aus dem Weg geraeumt, oder dass sie nach den vier Wochen ein ganz anderer Mensch sein werden, oder dass sie unglaublich viel abgenommen haben werden, oder dass sie ploetzlich tolerant sein werden, oder dass sie ueber die Trennung ihrer Eltern hinweggekommen sein werden oder dass sie endlich wissen, was sie erreichen wollen im Leben, oder oder oder...die Liste ist endlos.
Zweiteres ist ebenfalls toedlich: Ein Termin fuehrt zu Zeitdruck und dieser zu innerer Unruhe. Das merke ist selbst jetzt schon, da ich weiss, dass ich in 25 Tagen in Barcelona sein muss. Und bei den Pilgern ist es ungleich schlimmer: Sie zwingen sich ein Tagespensum von vielleicht 30 Kilometern zu gehen, um ja rechtzeitig Santiago zu erreichen. Die Folge ist, dass das erste Weckerklingeln um 4.30Uhr ist und das Tuetenraschelkonzert um 5.30Uhr beginnt, um ja einen Platz in der 30Km entfernten Herberge zu ergattern. Dies ist aber nur ein Teil der Pilger, die das so machen, die so genannten Stresspilger. Viele andere sind relaxter, gehen nur so weit, wie sie wollen, wie ihre Fuesse sie tragen und machen auch mal einen Tag Pause zwischendurch. Diese Gattung war mir doch wesentlich sympathischer.
Ok, ich denke, ich habe euch genug erzaehlt vom Camino, obwohl mein Hirn immer noch voll ist mit Eindruecken und Erfahrungen, die ich preisgeben moechte, aber das dann zu Hause. Dazu gehoert meine persoenliche Pilgerkategorisierung (man schlug mir vor, ich solle doch ein Buch ueber die Pilgergattungen schreiben, aber ich mach's nicht, weil doch sonst wieder so viel mehr Deutsche mein Buch lesen und den Weg noch populaerer wird) und auch die Begegnungen mit den wirklich interessanten Menschen, wie der Tschechin, die so Dinge gesagt hat wie: "The camino is a mirror of life." oder dem Deutschen, der den Camino als "komprimiertes Leben" bezeichnet hat. Aber wie gesagt, dazu zu Hause mehr.
In Santiago angekommen habe ich mir mehrere Tage Auszeit genommen, in einer esoterisch angehauchten Herberge uebernachtet, Seifenblasen gemacht, viele Pilger, die mir von frueher bekannt waren, wiedergetroffen und bin fuer einen Tag mit der schon erwaehnten Kanadierin nach La Coruna mit dem Bus gefahren. Konnte sogar noch auf der Fahrt dorthin endlich mal wieder meine Sanni-Kenntnisse anwenden: Eine junge Frau hat ploetzlich einen epileptischen Anfall mit anschliessender Bewusstlosigkeit bekommen, was dazu fuehrte, dass ich dahin gestuermt bin und gemerkt habe, dass die traditionelle stabile Seitenlage im engen Gang des Busses nicht funktioniert, naja, hab sie irgendwie auf die Seite gelegt bekommen und ihre Zunge mit ner Packung Taschentuecher, die ich ihr zwischen die Zaehne gestopft habe, geschuetzt. Nach ein paar Minuten kam der Rettungswagen und sie konnte professionell versorgt werden. Die junge Kanadierin war danach fertig mit den Nerven, obwohl sie das alles nur aus der Entfernung, ein paar Reihen weiter vorne, mitbekommen hat. Sie meinte immer: "I thought she was gonna die...oh my god." - hab sie beruhigt bekommen und somit konnten wir den anschliessenden Tag in La Coruna am Kieselstrand doch noch ein wenig geniessen.
Am darauffolgenden Tag habe ich grossartiges Spuelmittel gefunden und damit Riesenseifenblasen gemacht, die mir einen ordentlichen Betrag eingebracht haben. Als i-Tuepfelchen kamen dann noch zwei junge Fernsehreporter von einem Lokalsender und haben mit mir 'nen Interview fuer die Sendung "Mach, was du willst" gemacht und mich mit den Blasen gefilmt. Wenn der Beitrag fertig geschnitten ist, sendet er ihn mir per Mail, hat er zumindest versprochen. Da ich nur auf Englisch antworten konnte, habe ich mir noch schnell den naechsten Passanten geschnappt, der dann unfreiwillig auch im Rampenlicht stand und alles, was ich gesagt habe, uebersetzen sollte. Hehe, ich glaub, der war da nicht so gluecklich drueber :)
Kurz vor dem Interview haben mich Polizisten des Platzes verwiesen, weil ich ja keine "Licencia" haette...ich koenne sie im Rathaus bekommen, meinten die. Naja, den Spass wollte ich mir nicht nehmen und bin tatsaechlich dahingestifelt und habe versucht, mir diese Lizenz zu holen. Da jedoch niemand der Buerokraten wusste, wo ich hingehen musste (wurde viermal zu anderen Bueros geschickt) und da ein Strassenkuenstler mir sagte, das mit der Lizenz sei nur Theorie, in der Praxis gibt es die gar nicht, hab ich's aufgegeben und einfach auf 'nem anderen Platz weiter gemacht, wo dann die Fernsehkerle kamen. Also, ihr seht: In Spanien ist's mit der Buerokratie genauso gestellt wie in Dtld. - niemand ist zustaendig...
Na ja, nach Santiago wollte ich dann eigentlich das Radfahren erstmal aufgeben (schon wieder) und mit dem Zug nach Porto fahren. Tja, ich bin aber nur bis nach Vigo kurz vor der portugiesischen Grenze gekommen, wo ich zum Glueck die beiden sehr sehr netten und unkomplizierten Muensteraner getroffen habe, die auch Richtung Porto unterwegs waren. Das Paerchen, ehemals Kollegen, bestehend aus einem Mittvierziger und einem Mittfuenfziger macht seit 26 Jahren JEDES Jahr genau eine Woche Radtour und hat mich unter die Fittiche genommen. Fuer mich war das ein wahres Glueck, weil ich sonst naemlich mit dem Zug nach Porto gefahren waere, was - wie ich jetzt im Nachhinein festgestellt habe - ein grosser Fehler gewesen waere. Ich fragte sie beiden also am Bahnhof in Vigo, ob sie was dagegen haetten, wenn ich sie ein Stueck begleiten wuerde, was sie verneint haben. Aus dem "Stueck" wurden dann zwei Tage und zwei wunderbare Naechte in einer parkaehnlichen Anlage direkt an der portugiesischen Grenze, allerdings noch in Spanien und am Atlantik-Strand 25 Km noerdlich von Porto. Heute Mittag haben wir uns wieder getrennt, die beiden sind von Porto aus nach Hause geflogen und ich bin jetzt hier auf einem Campingplatz und geniesse die Sonne, die ich auf dem ganzen Camino sehr selten gesehen habe. Dafuer umso mehr den Regen. Ich bleibe jetzt ein paar Tage in Porto, das auf den ersten Blick eine echt tolle Stadt ist, treffe hier eventuell nochmal auf die Kanadierin und fahre dann - vermutlich wieder mit dem Rad - weiter die Kueste entlang nach Lissabon, um - so meine jetzige Planung - von dort ueber Madrid mit dem Zug oder Bus nach Barcelona zu fahren, wo ich meine letzte Woche verbringen werde.
Die naechsten Tage werden wohl fuer mich auch zum Teil von der Europameisterschaft gepraegt werden, die Stadt ist jetzt schon auf den Beinen und ueberall haengen portugiesische Flaggen. Auf dem Grossbildschirm am Strand werde ich hoffentlich am Sonntagabend Deutschland vs. Polen schauen koennen. We'll see.
Also liebe Leute, passt auf euch auf! Schoenen Dank fuer die Kommentare und ihr seid natuerlich wieder eingeladen, hier ein paar Gruesse oder gern auch Konkreteres zu hinterlassen. Bald, bald bin ich wieder im Lande mit einem Riesenbuendel an den eindrucksvollsten Fotos, die ich je auf einer Reise gemacht habe.

Euer Flo

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

So Flo.

Nun bist du also in Portugal angekommen. Hätte ich so gar nicht gedacht, denn so wirkt die "Reise" echt verdammt eindrucksvoll - hab echt riesen Respekt ! ! !

Die Chez Heinz Geschichte steht ürbigenz, da ich gestern bei den Ärtzen war... Tolle Band. Tolle Musi!

Pass DU auf DICH auf und komm heile wieder. mach dir nicht allzu viel Stress!
In diesem Sinne... noch ein Monat..:) !

By, Dome !

Anonym hat gesagt…

Hallo Florian,
ganz kurz, bin einer der beiden Münsteraner, der Christian, die Du getroffen hast. Für uns ware Deine Begleitung eine Berreicherung unserer 26. Tour!!! Schätze Dich sehr, vorallem Deinen Blog von heute, oder haben wir schon morgen ;-)). Wir sind prima wieder in Westfalen angekommen und erfreuen uns einer gewesenen Woche, wovon Du ein nicht unbedeutender Teil warst. Melde Dich, wenn Du wieder daheim bist. Liebe Grüße Christian

Anonym hat gesagt…

hey flo. ich habe ja schon so lange nichts mehr gehört von dir. du fehlst mir wahnsinnig. und weißt du was? ich habe jemanden kennen gelernt. davon muss ich dir unbedingt erzählen. ich hoffe, dass es dir super geht und ich bald mal wieder ein lebenszeichen von di bekomme.
alles liebe, miri