Montag, 30. Juni 2008

Abschied

Nach etwa dreieinhalb Monaten unterwegs, um die 3500 zurueck gelegten Radelkilometer und etwa 1000 Km mit anderen Verkehrsmitteln mache ich mich morgen Nachmittag auf den Weg von Lloret de Mar, wo ich mich gerade befinde, zum Flughafen in Girona, packe mein Kram und irgendwie auch mein Fahrrad ein und fliege dann am Mittwochmorgen Richtung Heimat.
Ich kann es echt kaum noch erwarten.

Bis demnaechst also! Euer Flo

Mittwoch, 18. Juni 2008

Metropolenhopping: Besonders unbesonders

An jenem Punkt, der fuer viele den Beginn einer langen Reise darstellt, geht es fuer mich nun dem Ende zu. Ich zaehle die Tage bereits rueckwaerts, was meiner Reisementalitaet in jedem Falle nicht gut zusteht: Ich reise nur noch mit halbem Herzen, bin weder fasziniert, noch beeindruckt, noch ueberrascht von einer neuen grossen Stadt, die momentan im Fliessbandtempo an mir vorbeirauschen: Porto, Lissabon, Madrid; Zaragoza & Barcelona in spe.
Porto, die fuer mich erste grosse Stadt seit langer, langer Zeit fesselte mich doch noch am meisten, weshalb ich mich fast ein halbes Dutzend Tage dort aufhielt, mir die verwinkelten Gassen der Ribeira anschaute, beeindruckt war von der Doppelbruecke ueber den Rio Douro im Stile des Eiffelturms, und den Strand in Vila Nova de Gaia, sw von Porto, eingehend anschaute und benutzte, da auch dort campierte. Die 30-minuetigen Busfahrten von meinem Campingplatz in die Innenstadt, dabei auf einer der riesigen Bruecken den Douro kreuzend, werden sich mir auch einpraegen, da so gaenzlich verschieden von der deutschen Busfahrermentalitaet: Warum die Tueren schliessen, fragen sich wohl die portugiesischen Busfahrer? Wird doch viel zu stickig! Warum auf die Strasse achten? Warum Ampeln beachten? Warum waehrend der Fahrt nicht quatschen? Nun ja, Portugal ist eben easy-going, laessig schlendern die Menschen durch die Staedte, laessig und mit sehr viel Zeit telefonieren Angestellte in den Touri-Infos mit ihren Liebsten, bevor sie den Touristen Auskunft geben. "Yeah, you like the portugese mentality...as long as you don't live here", wagte es ein Halb-Portugiese (halb-US-Amerikaner) auszudruecken, als ich ihm von meinem Eindruck erzaehlte. Und er hatte so Recht: Ich entschied mich von Porto Richtung Sueden zu radeln, immer mit dem wunderschoenen Nordwind im Ruecken an grossartigen Sandstraenden und Buchten entlang nach Lissabon und machte einen 30Km-Abstecher auf eine Halbinsel, von der laut Schild am Anfang derselben eine Faehre auf die andere Seite uebersetzen sollte. Ich kam also dort an, fand ein verschlossenes Tor zum Kai vor und spaeter jenen Halb-Portugiesen, der mir sagte, die Faehre sei seit Januar ausser Betrieb, zu angeblichen "Wartungsarbeiten", woran er selbst nicht glaube. "Mmmh", meinte ich, "I'd have expected a sign that informs the people about the ferry which is out of order." Und er darauf: "They just don't care..." - Schlussendlich fuhr dann doch eine Art Ersatzboot, das mich mit auf die andere Seite nahm. Zum Glueck, auf 30 Km zurueck strampeln gegen den Wind hatte ich ja sogar keine Lust! Die easy-going Mentalitaet der Portugiesen zeigte sich auch noch spaeter: Siehe weiter unten.
Nach der Durchquerung der Halbinsel fuhr ich an diesem Tag weitere 60 Km, bis nach Figueira da Foz, campierte dort und erholte mich von den 120 Tageskilometern, die aber bei Weitem nicht so anstrengend waren, wie die Haelfte auf dem Camino - dank des immer herrschenden Rueckenwindes und der grossartig flachen Landschaft.
90 Km am naechsten Tag, diesmal etwas huegeliger, fuehrten mich bis nach Nazaré, einer bei Touristen sehr beliebten mittelgrossen Stadt an der Atlantikkueste. Beliebtestes Fotomotiv natuerlich die hoechste Steilkueste Portugals, genau deshalb und nur deshalb ist dieser Ort auch so ueberlaufen - wobei der schoene weitlaeufige Strand auch nicht ausser Acht gelassen werden darf.
Und am naechsten Tag dann schon fuhr ich zunaechst 30 Km, dann etwa 80 Km mit einem Zug, der vollkommen ungeeignet fuer Fahrraeder ist, stieg aus diesem 20 Km nord-oestlich von Lissabon aus, um mir nicht die Einfahrt in diese grosse Stadt nehmen zu lassen. Es ist immer wieder ein kleines Erlebnis fuer die Sinne, derer man sich unter vollster Konzentration bedienen muss, beim Einfahrt in eine Millionenstadt. Ganz ploetzlich werden die Strassen eng und viel befahren. Verrueckte Rollerfahrer kreuzen, Fussgaenger sprinten bei Rot ueber die Strasse, idiotische Halbstarke mit tiefer gelegten Karossen und "breiten Puschen" halten jeden Kreisverkehr fuer ein Karussel auf dem Rummel, Busfahrer halten sich fuer die Staerksten im Verkehr und fahren dementsprechend, Taxis achten auf gar nichts - und mittendrin ich. Ok, los geht's: T-Shirt wieder an, da ich mich Oben-Ohne in der Stadt irgendwie komisch fuehle, Sonnenbrille ab, und ab dafuer: Die Einfahrt nach Lissabon war also irgendwie aufregend. Etwa 10 Km fuhr ich in dichtem Verkehr bis ich irgendwie einen Weg zum Campingplatz gefunden habe, was nicht einfach war, da West-Lissabon nur aus Autobahnen zu bestehen scheint, die ich doch lieber meide. Jetzt, reichlich spaet, habe ich mir sogar angewoehnt vor Ampeln in einen niedrigen Gang zu schalten, was sogar sicherheitstechnisch relevant ist, weil man dann nicht so hin- und herwackelnd anfahren muss. Zwischendurch hatte ich Passagen immer wieder zu schieben, dann aber gemerkt, dass Fahren sicherer ist, weil ich dann insgesamt schlanker bin. Wie dem auch sei, ich habe den Berg Monsanto gekreuzt und dahinter den Campingplatz gefunden, den groessten, den ich je gesehen habe.
Ab dann verblieb ich fuenf Naechte auf diesem, schaute mir Lissabon immer wieder, aber wie gesagt - nur mit halbem Herzen - an, und versuchte nahezu krampfhaft eine Moeglichkeit zu finden Richtung Spanien, Osten - Madrid oder Barcelona - zu kommen. Und da entpuppte sich zum zweiten Mal die oben beschriebene portugiesische Mentalitaet als hinderlich: Weder in Touristenbueros, noch an Bahnschaltern, Busticketschaltern, an Computerterminals oder in Reisebueros bekam ich vernuenftige Auskuenfte ueber die Moeglichkeiten nach Madrid oder Barcelona zu kommen; das immerwaehrende Problem: Mein Radel. Fahrradfahren ist in Portugal, sowie auch in Spanien, erst im Kommen, was man daran sieht, dass kaum Fahrradstaender existieren und auch wenig Leute das Fahrrad als Verkehrsmittel benutzen. Als Sportgeraet wird es haeufig verwendet, aber eben nie in Staedten zu sehen. Nun gut, schlussendlich bekam ich die Auskunft, Fahrradmitnahme sei nur in einem einzigen Bus, der kurz nach Mitternacht in Madrid ankommt, und dann auch nur verpackt moeglich oder in Regionalzuegen, bei denen mir kein Mensch eine Auskunft darueber geben konnte, wie oft ich bis Madrid umsteigen muesste und wieviel das kosten wuerde. Beide Moeglichkeiten kamen fuer mich also eigentlich nicht, oder nur im aeussersten Notfall in Frage. Fluege waren so kurzfristig viel zu teuer. Verzweifelt sah ich also nur die einzige Moeglichkeit darin, privat nach Madrid mitgenommen zu werden. Ich fragte also alle moeglichen Camper auf dem riesigen Campingplatz, fand aber nur einen einzigen, der zum moeglichen Zeitraum in die richtige Richtung fuhr - leider entpuppte sich dieser Mensch als der groesste Idiot: "We have space in our caravan, we could take you with us, but: It's your problem, my dear. I have my own problems, we all have our problems and this is your problem, just your problem, you have to try to find a solution." - er nahm mich also nicht mit, wohl nur aus Prinzipgruenden. Auch Geld, das ich ihm angeboten hatte, konnte ihn nicht umstimmen. Ich wurde ziemlich sauer und zog genervt ab. Also auch diese Moeglichkeit gestrichen. Tja, was machste nun?, dachte ich und verbrachte zwei weitere Tage im gluehendheissen Lissabon um eine Moeglichkeit zu finden: Schlussendlich kaufte ich ein Bahnticket fuer den Nachtzug nach Madrid, weil der Mann am Bahnschalter meinte, er glaube, dass Faehrraeder mitgenommen werden koennten. Falls nicht, dann wird mir das der Schaffner schon sagen (super, um 21.30 Uhr mit eingepacktem Fahrrad und bereits bezahltem Ticket...) Auf die Idee, sich mal zu erkundigen, vielleicht zu telefonieren, ist er natuerlich nicht gekommen. Nun gut, mittlerweile schon genervt von den easy-going Portugiesen riskierte ich es also, demontierte Pedalen, Reifen, Sattel, stellte den Lenker schraeg und packte es unter Zuhilfenahme von Pappkartons ein. Und dann haette ich mir sehnlichst einen Reisepartner zum Transport meines Krams gewuenscht. Dreimal musste ich jeweils beim Ortswechseln latschen und musste immer einen Teil meines Gepaecks unbeaufsichtigt lassen, aber zum Glueck ist nichts geklaut worden. Naja, nun zum Ende der Geschichte: Bahnpersonal erklaerte mir, das Paket sei zu gross, ich koenne es nicht in den Nachtzug mitnehmen. Ich versuchte es trotzdem: Also rein in den Zug, Paket irgendwo hingestellt. Der Schaffner kommt, meint: "Not possible, not possible." - sonst nichts. Loesungen, Alternativen bekommt man hier nie geboten. Ich renne also durch den Zug und finde - zu meinem groessten Glueck - direkt um die naechste Ecke einen grossen Platz fuer Gepaeck, wo mein Rad gepasst hat. Puuuh. Der Schaffner war zufrieden damit. Endlich. Vollkommen fertig, durchgeschwitzt, verbrachte ich die Nacht im Zug und fuhr am naechsten Morgen gluecklich in Madrid ein, meinem Endziel Barcelona ein kleines Stueckchen naeher. Und was ich mir geschworen habe: Nie wieder, ausser zum Rueckflug, werde ich mein Rad einpacken. Dann nehme ich lieber 10x umsteigen in Regionalzuegen in Kauf.
Nach dieser Odysee bin ich also seit gestern Vormittag in Madrid und werde mich noch heute Nachmittag um meine Weiterfahrt nach Barcelona kuemmern; ich hoffe, es wird einfacher als in Lissabon. Von einigen Begegnungen mit beschraenkten Interrailern auf dem Campingplatz in Lissabon abgesehen bin ich seit mittlerweile fast zwei Wochen ohne irgendeine tiefgruendigere Begegnung geblieben. Gestern nur habe ich kurz hier in Madrid einen alleinreisenden Radler getroffen, mit dem ich mich allerdings schwer verstaendigen kann. Witzigerweise ist mir aber da wieder aufgefallen, was der skurillste Gedanke ist, der sich durch die ganze Tour zieht: Jedes Mal, wenn ich einen Alleinreisenden sehe, denke ich: "Oh, der/die Arme, das muss ja total oede sein allein zu reisen, der hat bestimmt keine Freunde.", und habe das Gefuehl mich um den kuemmern zu muessen. Habe sogar mal in Lissabon jemanden gefragt, wie man denn auf die Idee kaeme, alleine zu reisen...? In Anbetracht der Tatsache, dass ich seit fast 100 Tagen allein unterwegs bin, ist dieser Gedanke doch ziemlich komisch, oder? Ich frage mich immer woher er kommt: Merke ich gar nicht mehr, dass ich allein bin? Genuege ich mir einfach selbst? Werde ich langsam schizophren? Ich weiss nicht, aber komisch ist es allemal.
Was zusaetzlich sich noch durch die ganze Tour zieht sind Warnungen: vor den Dieben in Portugal und Spanien, dem Leitungswasser in allen Laendern suedlich von Frankreich, den tollwuetigen Hunden in Lissabon. Ich kann gar nichts von alledem auch nur ansatzweise bestaetigen: Ich habe weder aus dritter, noch aus zweiter und schon gar nicht aus erster Hand einen Diebstahl mitbekommen; ich trinke seit Hannover fast nur Leitungswasser und hatte kein einziges Problem damit, ich bin bisher nicht einmal auch nur ansatzweise krank gewesen (nicht mal Schnupfen hatte ich) und straeunende Hunde sind mir auch nicht zu Gesicht bekommen. Fuer mich ein Beweis dafuer, dass alles immer dramatisiert wird - Reisen ist gar nicht so gefaehrlich, wie es immer dargestellt wird - aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. 13 Tage habe ich ja noch...aber jetzt zum Ende meiner Tour werde ich auch immer vorsichtiger, weil ich nicht moechte, dass mir jetzt noch, kurz vor Schluss, etwas geklaut wird. Aber Leitungswasser trinke ich natuerlich weiter. Bin vermutlich gegen alle Arten von den boesen westeuropaeischen Leitungswasserbakterien resistent.

Ein lieber Gruss an euch, und damit Schluss. Flo

Freitag, 6. Juni 2008

Ich kann's nicht lassen

Niemals haette ich gedacht, dass mich die Einfahrt in die Vorzeigestadt des Christentums, Santiago de Compostela, so wenig emotional beruehren wuerde. Aber ganz genau so war. Dabei hatte ich bei Passieren des Ortseingangsschildes im so haesslichen neuen Teil Santiagos bereits insgesamt mehr als 3100 Kilometer im Sattel zurueck gelegt; mein Ross spurt seit Tours in Frankreich, einem der Wendepunkte meiner Tour, wie ich rueckblickend feststellen kann. Etwa 800 Kilometer meiner Tour bin ich schnurstracks auf dem so genannten franzoesischen Jakobsweg, der kurz vor der spanischen Grenze noerdlich der Pyrenaeen beginnt und sich quer durch Spanien, so etwa 150 Km suedlich der Kueste, bis nach Santiago zieht, geradelt. Als einer der bequemen Pilger habe ich mich zum groessten Teil auf parallel zum Original-Pfad verlaufenen Landstrassen gehalten, um mich, meine Beine und mein Pferd zu schonen. Der Originalpfad ist naemlich nur fuer Fusspilger und wirklich verrueckte, erfahrene Mountainbiker und solche, die denken, sie seien erfahren, geeignet. Die Fahrraeder der Letztgenannten enden meist mit Kettenrissen, Speichenbruechen, vermatschten Zahnkraenzen oder gar gebrochenen Shimano-Kettenschaltungen in einer grossen Pappkiste auf dem Weg nach Hause, da die Schaeden irreparabel sind (dies ist keine literarische Freiheit, die ich mir womoeglich genommen habe, sondern pure Wahrheit).
Deswegen also entschied ich mich fuer den Weg, den mein in San Sebastian gekaufter deutscher Radwanderfuehrer empfohlen hat. De facto jedoch habe ich ihn selten benutzt: In den ersten vier Tagen fuhr ich mit dem Belgier Harry, den zweiten Teil des Weges in der flachen (und laut Reisefuehrer "fuer Deutsche beeindruckend leeren") Meseta-Landschaft hunderte von Kilometern auf der Nationalstrasse gen Westen und schob meinen Speedy Gonzales die darauffolgenden fuenf Tage ueber 100 Kilometer zusammen mit einem Menschen, der mich sehr inspiriert hat und mir verdammt stark ans Herz gewachsen ist, von dem ich mich allerdings fuer den letzten Abschnitt des Caminos 200 Kilometer, d.h. drei Tage vor Santiago getrennt habe. Und genau dafuer, da ich diese letzten drei Tage allein fuhr, war mein Radwanderfuehrer tauglich, sonst - wie gesagt - kaum gebraucht.
Und dann die Einfahrt nach Santiago, die ich nacheinander mit zwei Menschen geteilt habe: Den Teil bis kurz hinter dem Ortsschild "Santiago de Compostela" fuhr ich mit einer blutjungen Kanadierin und die letzten drei Kilometer bis zur Kathedrale, DEM Ziel aller Pilger, mit einem Hollaender im Rentenalter, der von Utrecht (Holland) nach Santiago geradelt ist. Fuer ihn, der immer Santiago als Ziel angepeilt hat, war es eine Riesenfreude. Aufgeregt, nervoes, sogar zitternd bat er mich von ihm und seinem Bock ein Foto vor der Kathedrale zu schiessen, nein, sogar mehrere sollten es sein: Horizontal, vertikal, diagonal, scheissegal. Zum Glueck hatte er einen so erfahrenen Fotografen wie mich am Druecker. Geschickt schoss ich also die Fotos, Dutzende, und machte ihn gluecklich. Ich, immer noch vollkommen unberuehrt von dem Trubel, den Touristen, der Kathedrale entschied mich daraufhin mir trotz meiner Gefuehlslosigkeit die "Compostela", also die Pilgerurkunde, zu holen. "Mr. Kalka, were the Camino based for you personally on religious reasons?", fragt die Frau vom Pilgerbuero mich. Ich antworte wahrheitsgemaess und kreuze auch noch an: "No religious reasons." - das war ein Fehler. Sie kramt unterm Schreibtisch und holt ein lieblos aussehendes DIN A4-Blatt hervor, schreibt meinen Namen und das Datum in die dafuer vorgesehenen Felder und haendigt mir das Pamphlet aus. Ich frage mich kurz, warum die anderen Pilger alle mit einem wunderschoen verzierten Bogen Papier das Buero verlassen, was habe ich bloss falsch gemacht? Und dann kapier ich: Die Religion. Also Notfallplan B: "Errrm, Misses, I thought you asked me if it was based on the christian religion, but actually it was based on my own religion that is called Florianismus, so in fact, it was based on religious reasons for me." - Tja, aber die Frau liess sich nicht ueberzeugen und ich zog etwas gekraenkt ab mit dem "Thanks for visiting Spain" (oder so aehnlich)-Papier.
Nun denn, ein Gefuehlsausbruch blieb also bei mir aus, andere Pilger hingegen (so erzaehlte man mir) brachen zusammen beim Anblick der Kathedrale oder gar der Stelle, unter der der Apostel Jakob vergraben sein soll. Oder sie danken Gott. Oder ihren Fuessen. Die Pilger, ja die Pilger sind schon ein merkwuerdiges Volk. Von Rumheulern, die den ganzen Tag ueber Blasen (haeufigstes Problem), Schmerzen an der Achillessehne (zweithaeufigstes Problem), Sehnenscheidenentzuendungen (Platz 3) oder allgemeiner Fusssohlenueberempfindlichkeit (Platz 4) sprechen bis hin zu Einmischern, die einem die Ruhe durch ihre staendige "Holá" und "Buen Camino"-Wuenscherei nehmen, ist alles dabei. Zu den Rumheulern meinte der Mensch, der mir so sehr ans Herz gewachsen ist: "Flo, weisst du, warum die alle so viele Probleme haben? Weil sie staendig drueber reden!" - ist vermutlich was Wahres dran.
Oh mein Gott, ich merke, es hoert sich wieder alles ein wenig negativ an. Nein, falsch! Der Camino war toll, ich habe ihn sehr sehr sehr genossen, mit Leib und Seele. Fuerwahr! Ich wuerde ihm jedem von euch weiterempfehlen. Alle paar Kilometer sind Pilgerherbergen, die meist von sehr sehr netten Freiwilligen gefuehrt werden und sehr wenig bis gar nichts kosten. Als Fusspilger bekommt man immer ein Bett, oder - falls voll - zumindest eine Matratze. Als Fahrradpilger ist man manchmal nicht so gern gesehen, deshalb empfehle ich auch den Weg zu Fuss zu gehen. Es ist mit grosser Sicherheit ein tolles Erlebnis, eine eindrucksvolle Erfahrung, die sich einpraegen wird. Jedoch darf man zwei Fehler meiner Meinung nach nicht machen: Mit grossen Erwartungen an die Sache rangehen und einen zeitnahen Rueckflug gebucht haben.
Ersteres fuehrt zu grossen Enttaeuschungen bei der Ankunft in Santiago. Wie viele Pilger habe ich kennen gelernt, die der Meinung waren, all ihre Probleme waeren ploetzlich aus dem Weg geraeumt, oder dass sie nach den vier Wochen ein ganz anderer Mensch sein werden, oder dass sie unglaublich viel abgenommen haben werden, oder dass sie ploetzlich tolerant sein werden, oder dass sie ueber die Trennung ihrer Eltern hinweggekommen sein werden oder dass sie endlich wissen, was sie erreichen wollen im Leben, oder oder oder...die Liste ist endlos.
Zweiteres ist ebenfalls toedlich: Ein Termin fuehrt zu Zeitdruck und dieser zu innerer Unruhe. Das merke ist selbst jetzt schon, da ich weiss, dass ich in 25 Tagen in Barcelona sein muss. Und bei den Pilgern ist es ungleich schlimmer: Sie zwingen sich ein Tagespensum von vielleicht 30 Kilometern zu gehen, um ja rechtzeitig Santiago zu erreichen. Die Folge ist, dass das erste Weckerklingeln um 4.30Uhr ist und das Tuetenraschelkonzert um 5.30Uhr beginnt, um ja einen Platz in der 30Km entfernten Herberge zu ergattern. Dies ist aber nur ein Teil der Pilger, die das so machen, die so genannten Stresspilger. Viele andere sind relaxter, gehen nur so weit, wie sie wollen, wie ihre Fuesse sie tragen und machen auch mal einen Tag Pause zwischendurch. Diese Gattung war mir doch wesentlich sympathischer.
Ok, ich denke, ich habe euch genug erzaehlt vom Camino, obwohl mein Hirn immer noch voll ist mit Eindruecken und Erfahrungen, die ich preisgeben moechte, aber das dann zu Hause. Dazu gehoert meine persoenliche Pilgerkategorisierung (man schlug mir vor, ich solle doch ein Buch ueber die Pilgergattungen schreiben, aber ich mach's nicht, weil doch sonst wieder so viel mehr Deutsche mein Buch lesen und den Weg noch populaerer wird) und auch die Begegnungen mit den wirklich interessanten Menschen, wie der Tschechin, die so Dinge gesagt hat wie: "The camino is a mirror of life." oder dem Deutschen, der den Camino als "komprimiertes Leben" bezeichnet hat. Aber wie gesagt, dazu zu Hause mehr.
In Santiago angekommen habe ich mir mehrere Tage Auszeit genommen, in einer esoterisch angehauchten Herberge uebernachtet, Seifenblasen gemacht, viele Pilger, die mir von frueher bekannt waren, wiedergetroffen und bin fuer einen Tag mit der schon erwaehnten Kanadierin nach La Coruna mit dem Bus gefahren. Konnte sogar noch auf der Fahrt dorthin endlich mal wieder meine Sanni-Kenntnisse anwenden: Eine junge Frau hat ploetzlich einen epileptischen Anfall mit anschliessender Bewusstlosigkeit bekommen, was dazu fuehrte, dass ich dahin gestuermt bin und gemerkt habe, dass die traditionelle stabile Seitenlage im engen Gang des Busses nicht funktioniert, naja, hab sie irgendwie auf die Seite gelegt bekommen und ihre Zunge mit ner Packung Taschentuecher, die ich ihr zwischen die Zaehne gestopft habe, geschuetzt. Nach ein paar Minuten kam der Rettungswagen und sie konnte professionell versorgt werden. Die junge Kanadierin war danach fertig mit den Nerven, obwohl sie das alles nur aus der Entfernung, ein paar Reihen weiter vorne, mitbekommen hat. Sie meinte immer: "I thought she was gonna die...oh my god." - hab sie beruhigt bekommen und somit konnten wir den anschliessenden Tag in La Coruna am Kieselstrand doch noch ein wenig geniessen.
Am darauffolgenden Tag habe ich grossartiges Spuelmittel gefunden und damit Riesenseifenblasen gemacht, die mir einen ordentlichen Betrag eingebracht haben. Als i-Tuepfelchen kamen dann noch zwei junge Fernsehreporter von einem Lokalsender und haben mit mir 'nen Interview fuer die Sendung "Mach, was du willst" gemacht und mich mit den Blasen gefilmt. Wenn der Beitrag fertig geschnitten ist, sendet er ihn mir per Mail, hat er zumindest versprochen. Da ich nur auf Englisch antworten konnte, habe ich mir noch schnell den naechsten Passanten geschnappt, der dann unfreiwillig auch im Rampenlicht stand und alles, was ich gesagt habe, uebersetzen sollte. Hehe, ich glaub, der war da nicht so gluecklich drueber :)
Kurz vor dem Interview haben mich Polizisten des Platzes verwiesen, weil ich ja keine "Licencia" haette...ich koenne sie im Rathaus bekommen, meinten die. Naja, den Spass wollte ich mir nicht nehmen und bin tatsaechlich dahingestifelt und habe versucht, mir diese Lizenz zu holen. Da jedoch niemand der Buerokraten wusste, wo ich hingehen musste (wurde viermal zu anderen Bueros geschickt) und da ein Strassenkuenstler mir sagte, das mit der Lizenz sei nur Theorie, in der Praxis gibt es die gar nicht, hab ich's aufgegeben und einfach auf 'nem anderen Platz weiter gemacht, wo dann die Fernsehkerle kamen. Also, ihr seht: In Spanien ist's mit der Buerokratie genauso gestellt wie in Dtld. - niemand ist zustaendig...
Na ja, nach Santiago wollte ich dann eigentlich das Radfahren erstmal aufgeben (schon wieder) und mit dem Zug nach Porto fahren. Tja, ich bin aber nur bis nach Vigo kurz vor der portugiesischen Grenze gekommen, wo ich zum Glueck die beiden sehr sehr netten und unkomplizierten Muensteraner getroffen habe, die auch Richtung Porto unterwegs waren. Das Paerchen, ehemals Kollegen, bestehend aus einem Mittvierziger und einem Mittfuenfziger macht seit 26 Jahren JEDES Jahr genau eine Woche Radtour und hat mich unter die Fittiche genommen. Fuer mich war das ein wahres Glueck, weil ich sonst naemlich mit dem Zug nach Porto gefahren waere, was - wie ich jetzt im Nachhinein festgestellt habe - ein grosser Fehler gewesen waere. Ich fragte sie beiden also am Bahnhof in Vigo, ob sie was dagegen haetten, wenn ich sie ein Stueck begleiten wuerde, was sie verneint haben. Aus dem "Stueck" wurden dann zwei Tage und zwei wunderbare Naechte in einer parkaehnlichen Anlage direkt an der portugiesischen Grenze, allerdings noch in Spanien und am Atlantik-Strand 25 Km noerdlich von Porto. Heute Mittag haben wir uns wieder getrennt, die beiden sind von Porto aus nach Hause geflogen und ich bin jetzt hier auf einem Campingplatz und geniesse die Sonne, die ich auf dem ganzen Camino sehr selten gesehen habe. Dafuer umso mehr den Regen. Ich bleibe jetzt ein paar Tage in Porto, das auf den ersten Blick eine echt tolle Stadt ist, treffe hier eventuell nochmal auf die Kanadierin und fahre dann - vermutlich wieder mit dem Rad - weiter die Kueste entlang nach Lissabon, um - so meine jetzige Planung - von dort ueber Madrid mit dem Zug oder Bus nach Barcelona zu fahren, wo ich meine letzte Woche verbringen werde.
Die naechsten Tage werden wohl fuer mich auch zum Teil von der Europameisterschaft gepraegt werden, die Stadt ist jetzt schon auf den Beinen und ueberall haengen portugiesische Flaggen. Auf dem Grossbildschirm am Strand werde ich hoffentlich am Sonntagabend Deutschland vs. Polen schauen koennen. We'll see.
Also liebe Leute, passt auf euch auf! Schoenen Dank fuer die Kommentare und ihr seid natuerlich wieder eingeladen, hier ein paar Gruesse oder gern auch Konkreteres zu hinterlassen. Bald, bald bin ich wieder im Lande mit einem Riesenbuendel an den eindrucksvollsten Fotos, die ich je auf einer Reise gemacht habe.

Euer Flo